Kriege haben nicht nur Vorboten. Sie verändern die in den Krieg involvierten Gesellschaften oft zutiefst, greifen in etablierte Ordnungen der Geschlechter ein, zerstören Körper von Menschen oder hinterlassen Spuren in ihren Psychen. Von vielfältigen Kriegstraumata kollektiver und individueller Art wird deshalb heute oft gesprochen, doch die Rede vom Trauma verdeckt häufig mehr als sie an Einsichten freilegt. Denn das, was vom Krieg bleibt, ist keineswegs einheitlich, sondern von historisch spezifischen Erfahrungen während und im Gefolge des Krieges wesentlich geprägt, wie der Vortrag sichtbar machen wird. Er fokussiert dabei auf deutsche Kriegsheimkehrer nach 1945, die über kürzere oder längere Zeit, oft auf Betreiben ihrer Angehörigen, in psychiatrischer Behandlung waren. Anhand ihrer Träume, Ängste und Bemühungen, ein Anderer zu werden, lässt sich eine Hinterlassenschaft des Krieges greifen, der aus sehr unterschiedlichen Gründen für sie zu einer Bürde geworden war.
Svenja Goltermann ist Professorin für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich. Zu ihren Forschungsfeldern gehören insbesondere die Geschichte der Gewalt, die Geschichte von Erinnerungskulturen und die Wissensgeschichte. Sie publizierte mehrere Bücher, darunter Die Gesellschaft der Überlebenden. Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg (2009), für die sie u. a. vom Historikerverband ausgezeichnet wurde. Im Jahr 2017 folgte Opfer. Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne. Derzeit arbeitet sie an einem Buch zur Veränderung der Gewaltwahrnehmung im ausgehenden 20. Jahrhundert.
Moderation: Professorin Dr. Annelie Ramsbrock
Zur Vortragsreihe "Gewaltgeschichten. Krieg und Geschlecht im 20. und 21. Jahrhundert"
Männer* verteidigen das Land – Frauen* und Kinder verlassen das Kriegsgebiet. Im andauernden Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine wird deshalb wiederholt von einer „heteronormativen Rollenverteilung“ gesprochen, wie etwa die Wiener Historikerin Claudia Kraft in einem Interview der Süddeutschen Zeitung im März 2022 durchaus kritisch festhielt. Das Thema Krieg und Geschlecht ist wieder hochaktuell, und zugleich kann Zweifel daran bestehen, dass Geschlechterverhältnisse im Krieg nicht in Flucht und Verteidigung als zwei logischen Reaktionen aufgehen. Geschlechterverhältnisse sind immer auch Bestandteil des Alltagslebens; werden neu im Ausnahmezustand entworfen, mindestens aber verschoben. Die Mobilmachung von Frauen* in beiden Weltkriegen und die darauffolgende schwierige Rückkehr militarisierter Männer* ins Zivilleben ist nur eines von vielen Beispielen aus dem vergangenen Jahrhundert, das den Prozess der sich wandelnden Geschlechterverhältnisse in Krieg und Nachkrieg eindrücklich zeigt.
Aus Anlass der aktuellen Diskussion verweist die Ringvorlesung auf weitere Szenarien der Verschiebung von Geschlecht und sozialen Rollen in Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeiten des 20. und 21. Jahrhunderts, wobei Geschlechterfragen im Alltag des Ausnahmezustands eine besondere Bedeutung zukommt. Dabei findet auch die Rolle von sexualisierter Gewalt im Krieg sowie das Verhältnis von Queerness und Kriegserfahrungen in der Vortragsreihe Beachtung. Die Reihe ist interdisziplinär angelegt und präsentiert verschiedenartige Schauplätze kriegsbedingter Ausnahmezustände. Die Vorträge befassen sich mit den Erfahrungen an der Front und Heimatfront, mit Inhalten von Propaganda und Aufarbeitung und mit geschlechtsspezifischen Erinnerungen und ihrer Verarbeitung in der Kunst und Literatur.